Vogtareuth – Zweimal haben Leitender Arzt Gerhard Kluger und sein Team in den letzten sechs Jahren ein Wunder erlebt: Zweimal gelang einem vierbeinigen Besucher am Krankenbett im Behandlungszentrum Vogtareuth, einem im Wach-Koma liegenden Kind die erste Reaktion auf die Umwelt zu entlocken.
Ein vierjähriges Mädchen, bei der stationären Aufnahme im BHZ im Wachkoma, hat nach einer Hirnentzündung gute Fortschritte gemacht – auch dank des Einsatzes von Hunden in der Frührehabilitation.
Das erste Lächeln nach langem Dämmerzustand, ein erster direkter Augenkontakt: Ergreifende Momente für die Eltern, aber auch für Ärzte, Pflegepersonal, Therapeuten und Hundeführer.
Unfälle, OP-Komplikationen, Hirnentzündung, Schlaganfall: Es sind schwere Schädel-Hirnerkrankungen, die Kinder ins Wachkoma fallen lassen. Sie haben ihre Augen geöffnet, reagieren aber nicht auf ihre Umwelt. Nach der stabilisierenden Akutbehandlung kommen viele – die meisten von ihnen noch immer im Wachkoma oder in einer frühen Phase des Aufwachsens – in die Spezialklinik am Behandlungszentrum (BHZ) Vogtareuth. Hier findet auf der Wachkomastation die Rehabilitation statt, die bis zu einem Jahr dauern kann und mit einem hohen Bedarf an medizinischer, therapeutischer und pflegerischer Betreuung einhergeht.
Die seit sechs Jahren angebotene Hundetherapie ist als ergänzendes Angebot zu verstehen, betont Dr. med. Gerhard Kluger, Leitender Arzt der Klinik für Neuropädiatrie und neurologische Rehabilitation am BHZ. Denn Wunder dürfen die Betroffenen vom Einsatz der Helfer auf vier Pfoten nicht erwarten – auch wenn sie zweimal geschehen sind. Als Erfolg werten Kluger und sein Team jedoch auch indirekte Reaktionen auf die gezielten Stimulationen durch die Anwesenheit des Tieres – vom ruhiger werdenden Atem, ersten deutlichen Seufzern, gleichmäßigeren Herzfrequenzen bis zur Lösung verkrampfter Muskeln und Entspannung des Gesichtes bei den Kindern, die unter großen Schmerzen leiden. Nicht selten sind dies erste Anzeichen auf Verbesserung des Zustandes – ermutigende Signale auch für die Eltern.
Der therapeutische Nebeneffekt für die Angehörigen ist nach Überzeugung von Kluger nicht zu vernachlässigen: „Die Mütter und Väter sind erschöpft, verzweifelt, entmutigt. Der Hund, der ihre schwer kranken Kinder wie selbstverständlich ohne Berührungsängste annimmt, löst auch bei den Eltern so manche innere Verspannung.“
Über 200 Kinder haben in den vergangenen sechs Jahren an der ergänzenden Hundetherapie teilgenommen – 150 von ihnen lagen im Wachkoma. Jeder Einsatz des vierbeinigen Therapiehelfers wurde dokumentiert. Denn das Interesse der medizinischen Fachwelt an dem ungewöhnlichen Therapieangebot ist groß. Besuchsdienste mit Tieren im Krankenhaus gibt es an vielen Kliniken in Deutschland, doch der konsequente Einsatz bei Kindern, die im Wachkoma liegen, gilt als einmalig.
Möglich gemacht hat dieses Projekt nicht nur die Bereitschaft Klugers und der Therapeuten seines Teams, die bürokratischen und hygienischen Hürden eines Tiereinsatzes am Krankenbett, zu nehmen, sondern auch zweier wichtige Partner: der Verein „Silberstreifen“ unter Vorsitz von Barbara Pömsl, der schwer neurologisch erkrankte Kinder und ihre Familien unterstützt und das ergänzende Angebot mit Spendenmitteln finanziert, und „animal learn“, der Bernauer Hundeschule von Clarissa von Reinhardt.
Sie bildet die sorgfältig ausgesuchten Mensch-Hundegespanne für den Spezialeinsatz am Krankenbett aus. Die freitäglichen 20 Therapieminuten im BHZ vollziehen sich nach einem festgelegten Ablauf, der die Einhaltung des Tierschutzes garantiert. Denn auch die zotteligen Therapeuten dürfen, darauf legt auch Kluger Wert, nicht überfordert werden. In der Regel bereitet es ihnen jedoch Freude, Kindern wie der 14-jährigen Miriam zu begegnen. Der Hund springt auf die Behandlungsliege neben dem Rollstuhl, stupst mit seiner Nase die verkrampfte Hand des nach Sauerstoffmangel bei der Geburt geistig und körperlich schwer behinderten Mädchens an. Der Blick der 14-Jährigen geht plötzlich nicht mehr ins Leere, das Gesicht zeigt die Andeutung eines zaghaften Lächelns. Auch für die Mutter stellen die kurzen, aber intensiven Begegnungen mit Jagdhund „Flora“, der Miriam sogar mit Unterstützung der Therapeutin zum Werfen eines Balles motiviert, entspannende Momente im anstrengenden Klinikalltag mit ihrer Tochter dar.
Ein „Kollege“ von „Flora“ ist „Lotta“, der Hund von Kluger und seiner Ehefrau, die sich selber zur Hundeführerin für das Projekt ausbilden ließ. Die Erfahrungen des Ehepaars fließen auch in ein Pilotprojekt am Heilpädagogischen Zentrum (HPZ) in Rosenheim ein: Dort gibt es demnächst eine „tiergestützte Pädagogik für Kinder mit geistigen Behinderungen“. Neurologisch kranke Mädchen und Buben im BHZ profitieren nicht nur vom Therapiehelfer Hund. Der Verein „Silberstreifen“ hat auch das Klinikpferd „Merlin“ erworben und in der Hippotherapie ausbilden lassen. Sie ist sogar als Krankengymnastik, welche die motorischen Bewegungen der kleinen Patienten verbessern kann, anerkannt.
OVB 16.09.09, Text und Foto: Heike Duczek